Temperament und Fahrstil

„Menschen fahren, wie sie fühlen“, das ist eine Beobachtung, die Autofahrer häufig an sich selbst oder bei andern machen können. Ärgernisse und Frustrationen schüren die Bereitschaft, sich aggressiv am Steuer zu verhalten oder Risiken beim Überholen oder fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit einzugehen.

Ängste lassen Unsicherheit aufkommen. Glücksgefühle steigern das Selbstbewusstsein und das Gefühl kompetent zu sein. Menschen unterscheiden sich darin, wie stark sie in gleichen Situationen emotional reagieren, gleichgültig, ob dies positive oder negative Gefühle sind. Dieser individuelle Grad der Empfindungsstärke, der ein Temperamentszug ist, trägt zur Erklärung bei, warum in Konfliktsituationen die einen cool bleiben, die anderen sich über alle Maßen aufregen. Autofahrer mit ausgeprägt heftigen Gefühlsstürmen bringen durch eine unkontrollierte und aggressive Fahrweise sich und andere in Gefahr.

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Was kennzeichnet eigentlich das Temperament eines Menschen? Es bestehen zahlreiche unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Temperament ist und welche Temperamentszüge es gibt. Weitgehend einig sind sich die Experten, dass es sich beim Temperament um eine relativ stabile Eigenschaft des Menschen handelt, die einen biologischen (genetischen) Ursprung hat und sich im Ausdruck von Gefühlen und Verhalten äußert. Bereits Kant hat zwischen dem „Temperament der Gefühle“ und dem „Temperament der Tätigkeit“ unterschieden [1]. Darüber hinaus steht beim Temperament eher das WIE des Erlebens und Verhaltens im Vordergrund als das WAS, bezieht sich also mehr auf die Form, die Art der Reaktion oder den Verhaltensstil als auf Erlebnisinhalte und Bedeutungen [2]. Deshalb ist es für den Temperamentsforscher weniger wichtig, ob zum Beispiel ein Kind sich einer fremden Person nähert oder sich von dieser entfernt, sondern wie das Kind dieses Verhalten ausübt, mit welchen Bewegungen, Emotionen, mit welcher Intensität und welchen sonstigen Reaktionen. Diese Sichtweise unterscheidet sich grundlegend von einer Beschreibung des Menschen, in der Moral, ethische Werte und Einstellungen eine zentrale Rolle spielen, die unter anderem den Charakter einer Person prägen. Sie grenzt sich auch von einer Darstellung solcher Wesenszüge ab, die sich auf die Begabung beziehen oder auf die Gründe und Motive des Handelns [3].

In der psychologisch ausgerichteten Verkehrssicherheitsforschung hat der Begriff des Temperaments noch keine nennenswerte Verbreitung gefunden, obgleich einzelne Temperamentszüge wie Sensation Seeking (das Bedürfnis nach neuen, intensiven Erlebnissen) oder Impulsivität häufig in Studien erfasst werden. Zahlreiche Studien belegen den Risiko erhöhenden Einfluss des Sensation Seeking bzw. Erlebnishungers auf verkehrsbezogene Einstellungen und Fahrweisen [6]. Je stärker der Drang ist, Neues zu erleben und sich einem intensiven Gefühlserlebnis auszusetzen, desto größer die Gefahr, dabei Schaden zu nehmen. Das gilt für den Techno-Freak, der sich eine Ecstasypille „schmeißt“, genauso wie für den Tempo-Freak, der bei Tempo 200 den besonderen Kick sucht. Für junge Autofahrer und -fahrerinnen wurde im Rahmen einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen festgestellt: Je stärker der Erlebnishunger ausgeprägt ist, desto stärker die emotionale Bindung zum Auto, die positive Einstellung zur Geschwindigkeit sowie die erwarteten positiven Konsequenzen anderer [12].

Auch Impulsivität begünstigt in einem gewissen Maße einen riskanten Fahrstil und das Aufkommen aggressiver Verhaltensweisen am Steuer [4]. Nach Herperz und Saß lässt sich das psychologische Merkmal „Impulsivität“ durch zwei Dimensionen beschreiben – den impulsiven Antrieb und die Impulskontrolle. Während der impulsive Antrieb vorwiegend genetisch bedingt sein soll, wird die Impulskontrolle dagegen vorwiegend als gelernt angesehen. Ob ein impulsiver Antrieb sich in einer impulsiven Handlung niederschlägt, ist abhängig vom Einfluss der Impulskontrolle [5]. Eine Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen zeigt deutlich: Je stärker die Probleme bei der Impulskontrolle junger Fahrer und Fahrerinnen ausgeprägt sind, desto positiver fallen die Einstellung zur Geschwindigkeit sowie die Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen aus. Aber auch auf das berichtete Fahrverhalten sowie auf die Anzahl berichteter Verkehrs­verstöße übt eine schwächer ausgeprägte Impuls­kontrolle beachtliche Einflüsse aus. Diese wirken jedoch dann nicht direkt, sondern indirekt über ver­schiedene verkehrssicherheitsbezogene Einstel­lungen [10].

Auch Personen, die durch starke Ungeduld, häufige Aggressionsausbrüche, ausgeprägtes Stressempfinden, erhöhte Reizbarkeit und cholerische Reaktionen charakterisiert sind – so genannte Typ-A-Personen – haben ein erhöhtes Unfallrisiko. Dies ergab eine französische Studie, an der annähernd 12.000 Personen im Alter von 39 bis 54 Jahren teilgenommen hatten [7].

Eine Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen über psychologische Aspekte des Motorradfahrens zeigt ebenfalls Zusammenhänge zwischen Temperamentseigenschaften und verkehrsbezogenen Einstellungen und Erwartungen auf: Ein stärker ausgeprägter Erlebnishunger von Motorradfahrern schlägt sich sowohl in einer positiveren Einstellung zur Geschwindigkeit als auch in einer positiveren Einstellung zu aggressiven Fahrweisen nieder. Eine größere Reizbarkeit von Motorradfahrern geht einher sowohl mit einer positiveren Einstellung zu aggressivem Fahrverhalten als auch mit einer positiveren Einstellung zu Fahren unter Alkoholeinfluss. Erhöhte Ängstlichkeit wiederum äußert sich in einer geringer ausgeprägten Erwartung eigener Fahrfähigkeiten [11].

Seit geraumer Zeit wird auch vermehrt über die nachteiligen Auswirkungen des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADHS) auf die Verkehrssicherheit diskutiert [8]. Früher hatte man eine gesteigerte Aktivität bei Kindern im Vorschulalter in der Regel als ein lebhaftes Temperament interpretiert. Heute entsteht sehr schnell der Verdacht, ein auffällig lebhaftes Kind habe ADHS und diese Lebhaftigkeit sei Ausdruck einer vom normalen Verhalten abweichende Hyperaktivität und Impulsivität. Kinder mit einer ADHS-Symptomatik sind Kinder mit extremen Ausprägungen bestimmter Temperamentsdimensionen wie Aktivität, sensorischer Reizschwelle, Anpassungs-vermögen, Reaktionsintensität, Stimmungslage, Ablenkbarkeit und Ausdauer. Schwierig ist es jedoch, eine Grenze zwsichen lebhaftem Temperament und ADHS-Symptomatik zu ziehen [9].

Möglicherweise lassen sich temperamentsbedingte Erlebnisformen und Verhaltensstile nicht so leicht umerziehen. Autofahrer können jedoch dafür sensibilisiert werden, wie schnell gefährliche Konflikte entstehen, wenn das eigene Temperament nicht im Zaum gehalten wird, und sie können sich Strategien aneignen, wie sie mit dieser persönlichen „Ausstattung“ im Straßenverkehr umgehen. So mag es zum Beispiel helfen, bis zehn zu zählen oder den Ärger einfach herunterzuschlucken, um ein erhitztes Gemüt wegen eines Dränglers zu beruhigen.

Das Wissen um typische Erlebnis und Verhaltensstile kann auch den Therapeuten, den Moderatoren in der Nachschulung oder den Ausbildern in den Fahrschulen dienen, indem sie auf die unterschiedlichen Temperamente eingehen und gezielt Interventionsstrategien einsetzen. So könnten sie zum Beispiel Personen, die häufig gestresst, aggressiv und ungeduldig sind (Merkmale eines Typ-A-Verhaltensmusters), raten, bestimmte Strecken zu meiden oder zu bestimmten Tageszeiten nicht zu fahren, um Stresssituationen aus dem Weg zu gehen.

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[1] Hofstätter, P.R. (1971). Differentielle Psychologie. Stuttgart: Alfred Körner Verlag.

[2] Strelau, J. (1983). Temperament Personality-Activity. New York: Academic Press.

[3] Cattell, R.B. (1969). Description and Measurement of Personality. New York, London: Johnson Print Corporation.

[4]  Dahlen, E.R., Martin, R.C., Ragan, K. & Kuhlmann, M.M. (2005): Driving anger, sensation seeking, impulsiveness, and boredom proneness in the prediction of unsafe driving. Accident Analysis and Prevention, 37, 341-348.

[5] Hepertz, S. & Saß, H. (1997): Impulsivität und Impulskontrolle. Zur psychologischen und psy­chopathologischen Konzeptionalisierung. Ner­venarzt, 68, 171-183.

[6] Herzberg, P.Y. & Schlag, B. (2003). Sensation Seeking und Verhalten im Straßenverkehr. In M. Roth & P. Hammelstein (Hrsg.), Sensation Seeking – Konzeption, Diagnostik, Anwendung (S. 162–182). Göttingen: Hogrefe.

[7]  Nabi, H., Consoli, S.M., Chastang, J.-F., Chiron, M., Lafont, S. & Lagarde, E. (2005). Type A behavior pattern, risky driving behaviors, and serious road traffic accidents: A prospective study of the GAZEL cohort. American Journal of Epidemiology, 161, 864–870.

[8] Holte, H. (2004). Der Zappelphilipp fällt nicht nur vom Stuhl. Zeitschrift für Verkehrssicherheit, 2, 59–60.

[9] Zulauf, P. (2002). Kognitive Leistungsprofile von ADHD-Risikokindern im Vorschulalter. Bern: Dissertation an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern, November 2002.

[10]  Holte, H. (2012). Einflussfaktoren auf das Fahrverhalten und das Unfallrisiko junger Fahrerinnen und Fahrer. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 229. Bremerhaven, Bergisch Gladbach: Wirtschaftsverlag NW.

[11]  Von Below, A. & Holte, H. (2014). Psychologische Aspekte des Unfallrisikos für Motorradfahrerinnen und -fahrer. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 247. Bremerhaven, Bergisch Gladbach: Wirtschaftsverlag NW.

[12]  Holte, H., Klimmt, C., Baumann, E. & Geber, S. (2014). Wirkungsvolle Risikokommu-nikation für junge Fahrerinnen und Fahrer. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Mensch und Sicherheit, Heft M 249, Bremerhaven, Bergisch Gladbach: Wirtschaftsverlag NW.