Von der Überwindung der Langsamkeit

Einst kletterten unsere Vorfahren von den Bäumen und zogen in die trockene Savanne. Auf zwei Beinen stehend konnte sie zwar die Gegend gut überblicken, den Mitbewohnern ihrer neuen Heimat waren sie jedoch in Schnelligkeit, Wendigkeit und Kraft hoffnungslos unterlegen. Mit bloßen Händen konnten die Zweibeiner nichts gegen gewaltige Reißzähne und dolchartige Krallen, gegen überlegene Kraft und den Killerinstinkt der Hausherren ausrichten. Und dennoch gelang es ihnen Wege zu finden, die Langsmkeit zu überwinden und über enorme Kräfte zu verfügen.

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Bild: Rob Old

Mit dem aufrechten Gang fing es an

Man sagt, Land und Klima veränderten sich, die Wälder wichen zurück, die Nahrungsquellen lagen nun viel weiter auseinander als in früheren Zeiten. In der neuen, flachen Umgebung richtete sich ein affenähnliches Wesen auf und begann auf zwei anstatt auf vier Beinen seine Mahlzeiten zu suchen. Nach Ansicht der beiden Paläontologen Peter Rodman und Henry McHenry hat sich das zweifüßige Umherziehen allein wegen des günstigeren Energieverbrauchs durchgesetzt. Ob auf zwei oder vier Füßen, unsere Affen-Verwandtschaft verbraucht auf dem Boden wesentlich mehr  Energie wie wir. Dies konnten der Anthropologe Michael Sockol von der University of California und seine Kollegen in einem Experimentt mit Schimpansen eindrucksvoll belegen. Die Messungen auf einem Laufband ergaben, dass Menschen beim Laufen 75 Prozent weniger Energie verbrauchen als Schimpansen, unabhängig davon, ob auf zwei oder vier Beinen. Entscheidend für den deutlich günstigeren Energieverbrauch des Menschen beim Laufen sind die Schrittlänge und die aktive Muskelmasse. So steigt der Energieaufwand  mit kürzeren Schritten und zunehmender mehr Muskelmasse. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass die Entstehung des aufrechten Gangs auf einen günstigeren Energieverbrauch zurückzuführen ist.

Andere Forscher erklären die Entstehung der neuen Gangart durch den vielseitigen Gebrauch der Hände oder durch den Vorteil, Feinde im flachen Gebiet besser erspähen zu können. Für den Anatomie-Experten Owens Lovejoy war Sex die treibende Kraft, sich aufrecht fortzubewegen. Die Männchen benutzten ihre Hände, um Futter herbeizutragen, das sie bei den Weibchen gegen Sex eintauschten. Damit verschaffte das Männchen dem Weibchen mehr Zeit für den Nachwuchs, was die Aufzucht verkürzte und schließlich eine frühere Paarungsbereitschaft des Weibchens zur Folge hatte. Nach Ansicht des Verhaltensforschers Carsten Niemitz dagegen war der Aufenthalt in Ufernähe von Gewässern und die Nahrungssuche im Wasser ausschlaggebend dafür, dass sich das aufrechte Gehen herausbildete. Wie gesagt - alles Theorien!

Nach der tödlichen Regel »der Schnelle fängt den Langsamen« wäre den Menschen im Wettlauf ums Überleben wohl schnell die Puste ausgegangen, wenn nicht nach dem Erwerb des aufrechten Gangs eine Entwicklung eingetreten wäre, die sein Gehirn betrifft: es wurde größer und größer. Vor drei Millionen Jahren hatte es noch ein Volumen von ungefähr 500 Kubikzentimeter, eine Million Jahre später eines von etwa 800 und heute im Durchschnitt eines von 1350. Nach Ansicht des Anthropologen Robert Martin von der Universität Zürich ist diese außergewöhnliche Entwicklung allein der besseren Fähigkeit zuzuschreiben, energiereiche Nahrungsquellen zu erschließen. Für das Wachstum und für die Funktion des Gehirns ist Energie unentbehrlich. Beim erwachsenen Menschen macht es zwar nur zwei Prozent des Körpergewichts aus, verbraucht aber etwa ein Fünftel der Energieressourcen. Sogar mehr als die Hälfte der verfügbaren Energie benötigt das Gehirn eines Neugeborenen, das bei der Geburt ungefähr ein Zehntel des Gesamtgewichts ausmacht. Ohne eine fortschreitende Verbesserung der Energieversorgung, so Professor Martin, wäre eine Vergrößerung des Gehirns im Laufe der Evolution nicht möglich gewesen. Erst durch das aufrechte Gehen konnten diese energiereichen Nahrungsquellen erschlossen werden. Andere Forscher vermuten dagegen, dass die Vergrößerung des Gehirns mit dem Leben in der Gemeinschaft zusammenhängt. Die Fähigkeit, sich abzustimmen, gemeinsam zu planen und zu handeln oder Verhaltensweisen der Mitglieder richtig einschätzen zu können, setze ein leistungsfähiges Gehirn voraus.

Überleben in der Savanne

Auch wenn der Frühmensch kein konkurrenzfähiger Sprinter gewesen war, so besaß er doch bemerkenswerte Fähigkeiten, die im Nahrungs-Wettstreit wichtige Pluspunkte einbrachten. Er warf »überlegt« mit Steinen, und er erfand den Speer. Dabei erwarb er eine Fähigkeit, die zum Überleben äußerst wichtig war und die seine Affen-Verwandtschaft nicht besitzt - das genaue Zielen. Außerdem besaß er eine ausgezeichnete Fernsicht, die es ihm ermöglichte, hoch kreisende Geier auszumachen und deren Entfernung zuverlässig abzuschätzen. Jetzt konnte er seine enorme läuferische Ausdauerleistung ausspielen und zu einem frischen Kadaver hineilen, in der Hoffnung, eher dort zu sein als die kurzsichtigen Löwen. Es begann ein Wettlauf mit der Zeit. War er nun glücklicherweise als erster am Tatort, so griff er zum scharfkantigen Steinsplitter, schlitzte die für Geierschnäbel undurchdringliche, lederne Haut eines großen Tierkadavers auf und bediente sich. So könnte es sich nach Ansicht des Evolutionsbiologen Josef Reichholf in jenen Tagen des Frühmenschen abgespielt haben. Der Frühmensch, physisch nicht konkurrenzfähig mit den Räubern der Wildnis, machte im Wettrennen um den allseits begehrten Kadaver »mit Köpfchen« viel Boden gut.

Tiere im Dienste des Homo Sapiens

Die Geschichte des langsamen Aufrechtgängers ist auch eine Geschichte über seine Helfer und Techniken, die es ihm ermöglichten, die schnellere Beute zu erwischen und sich vor seinen Feinden zu schützen. Wenn man dem berühmten Verhaltensforscher Konrad Lorenz Glauben schenken darf, erhielt der frühe Jäger »Schützenhilfe« von den Schakalen. In einer Art Jagdgemeinschaft spürten diese kleinen aber flinken Räuber das Wild auf, hetzten und stellten es schließlich. Das Töten der viel größeren Tiere übernahm dann der Jäger, der sich mit saftigen Fleischbrocken bei seinen »Jagdhunden« bedankte.  Erst vor zehn- bis fünfzehntausend Jahren war der Hund so weit gezähmt, um ihn gezielt zum Aufspüren, Hetzen oder Stellen der Beute einsetzen zu können.  Mit der im Tierreich seltenen Kombination aus Spurtschnelligkeit und Ausdauer entwickelte sich der Vierbeiner mit der kalten Schnauze zu einem höchst effizienten Helfer des Jägers, der inzwischen mit Pfeil und Bogen aufgerüstet hatte.

Foto: Hardy Holte

Dann gab es noch das Pferd. Zunächst stand es auf dem Speisezettel wie alles andere jagdbare Wild und lieferte ein gutes Fell ab. Der Wurfspeer und die Fallgrube kamen zum Einsatz. Bevor sich der Mensch auf das Pferd setzte und sich fortbewegen ließ, vergingen jedoch noch viele Jahrtausende. Der Dienst des Pferdes als Reittier lässt sich erst im zweiten vorchristlichen Jahrtausend nachweisen. Als die Menschen aber schließlich den Platz auf dem Rücken der Pferde fest eingenommen hatten, waren sie nicht mehr aufzuhalten. Die neu gewonnene Geschwindigkeit verhalf den Nomadenvölkern zu ungeheurer Macht und Ausdehnung. Bewaffnet mit Speeren, kurzklingigen Schwertern und vor allem mit Pfeil und Bogen fielen die Hunnen in China ein, raubten und töteten, verschwanden schließlich wieder so schnell wie sie aufgetaucht waren. Das größte zusammenhängende Weltreich der Geschichte wurde auf dem Rücken der Pferde erobert. Es war das Reich der Mongolen, das Reich von Dschingis Khan und seinen Nachfolgern, und es dehnte sich vom Baikalsee bis nach Vietnam aus, vom Pazifik bis zur Adria.

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Bild: Hardy Holte

In Einheit mit dem Pferd verfügte der Mensch über die Eigenschaften Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft, mit denen er die Grenzen des Horizontes aufbrechen und immer neue Gebiete entdecken konnte. Waren dies die Augenblicke, in denen er sich plötzlich so frei fühlte, wie noch nie, frei von den Fesseln der Langsamkeit und befreit aus der Enge seines langjährigen Lebensraums? Durch seinen großen, kräftigen Begleiter wurde die Welt kleiner und schöner, denn es machte wohl auch Spaß, sie im Galopp zu überfliegen und an sich vorbeiziehen zu sehen. Und kamen ihm, dem Aufrechtgänger, von erhöhter Warte nicht nun auch Gefühle der Überlegenheit gegenüber denjenigen auf, die zu Fuß unterwegs waren? Und fühlte er, der Überlegene, der Mächtige nicht nun die Kraft, seine Götter von den Podesten zu stürzen?

Die Pferd-Wagen-Connection

Der Wagen kam nicht zum Pferd, sondern umgekehrt das Pferd zum Wagen, und vermutlich dort, wo man die Wiege der menschlichen Kultur entdeckt hat - in Mesopotamien, dem Land zwischen den beiden Flüssen Euphrat und Tigris. Die erfindungsreichen Sumerer, die vor 5000 Jahren dort beheimatet waren, bauten Städte und Straßen, erfanden die Schrift und das Prinzip der Arbeitsteilung, und ihnen wurde auch lange Zeit die Erfindung des Rades zugesprochen. Die Sumerer bauten nachweislich im großen Stil schwere zwei-und vierrädrige Holzwagen, die anfangs von Rindern, später von Eseln und vor allem von Maultieren gezogen wurden. Heute wird vermutet, dass der Wagen mit Rädern gleichzeitig an unterschiedlichen Orten erfunden wurde. Gennant werden unter anderem der norwestliche Schwarzmeerbereich, Mesopotamien und das Alpenvorland.

Nicht von ungefähr nahm die steile Karriere des Wagens gerade im blühenden Reich der Sumerer ihren Lauf. Auch wenn einige Gelehrte der Ansicht sind, der rollende Schlitten sei als Kultgegenstand zur Welt gekommen, als ein heiliges Gerät, dessen Bestimmung es war, Götterstatuen zu befördern, unbestritten ist ein starkes Bedürfnis in dieser ersten Hochkultur, landwirtschaftliche Erzeugnisse zu transportieren. Immerhin lebten die Menschen damals in dicht besiedelten Städten, waren also sesshaft geworden und mussten das, was sie außerhalb der Stadt anbauten, wieder in die Stadt hineinbringen. Außerdem mussten sie Bauholz und Steine von weither einführen, denn das Schwemmland, auf dem sie sich niedergelassen hatten, warf solche Rohstoffe nicht ab. Mag es allein dieser Mangel gewesen sein, der den sumerischen Handel ausgelöst hatte, so erhielt schon bald eine weitere treibende Kraft ein beträchtliches Gewicht: es war der Anreiz, reich und reicher zu werden. Im Tausch gegen landwirtschaftliche Produkte erwarb man außer den lebenswichtigen Baustoffen auch noch Kostbarkeiten wie Silber, Gold und edle Steine. Hierfür wurden immens weite Strecken zurückgelegt, die obendrein gefährlich waren, da sie Räuber und Wegelagerer anlockten.

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Kurzum - der Siegeszug des sumerischen Wagens setzte in dem Augenblick ein, als sich städtisches Leben auf der Erde gebildet hatte. Seine Einführung revolutionierte den gesamten Transport und beeinflusste das Weltgeschehen. Das Pferd als Zug- und Reittier spielte zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine bedeutende Rolle. Ochsen und Esel zogen die schwere Last. Allein einer Kreuzung des schnellen Onagers (Halbesel) mit dem ausdauernden Hausesel blieb es zunächst vorbehalten, an den vornehmen Kriegswagen gespannt zu werden. Später übernahmen Maultiere diese »ehrenvolle« Aufgabe. Erst im 18. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung begann im Zweistromland die kometenhafte Karriere des Pferdes. Man zähmte es, spannte es vor einen neuen Wagentyp, den leichten Streitwagen, und ließ es gegen die Fußtruppen sämtlicher Völker anrennen. Die Überlegenheit dieses gefürchteten Kriegsgeräts lag in seiner leichten Bauweise begründet. Rigoros »abgespeckt« hatte es durch das neu erfundene Speichenrad und einen verkleinerten Wagenkorb, der nunmehr aus einem Boden und einer gebogenen Vorderwand bestand. Fahrer und Bogenschütze bildeten ein Team. Während der eine die Pferde durch die gegnerischen Fußtruppen peitschte, beschoss der andere den Feind mit seinen Pfeilen. In sämtlichen Kulturen der alten Welt wurde diese Kriegswaffe hergestellt und zum Teil weiterentwickelt.

Die Stunde der Reiter

Trotz allem verblasste der Glanz der schnellen Streitwagen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr. Kriege bekamen ein neues Gesicht. Der Reiterkrieger, wie er sich im Steppenraum entwickelt hatte, war dem schwerfälligen Gefährt der Elite an Beweglichkeit und damit auch an Schlagkraft deutlich überlegen. Einige Forscher behaupten, der Sieg des Reiters über den Streitwagen sei letztlich ein Sieg der Technik gewesen. Die Erfindung der Trense, eine neuartige Zäumung des Pferdes, machte das Lenken und damit vernünftiges Reiten erst möglich. Andere wiederum führen den durchschlagenden Erfolg auf die Züchtung kräftigerer Pferde zurück, die einen Reiter überhaupt erst richtig tragen konnten. Welche Erklärung auch zutreffen mag, das Ende der Wagenritter war besiegelt. Ihre Abneigung, nun vom Sattel aus zu kämpfen, ist verständlich, gehörte doch der Reiter in der elitären Streitwagengesellschaft, wie der Bonner Archäologe Hans-Georg Hüttel berichtet, überwiegend den unteren Schichten an (Pferdeknechte reiten). Ein Herr fuhr eben einen Wagen!

Was aber wurde nun aus der Pferd-Wagen-Connection? Es ist schon ein schier unbegreifliches Phänomen, dass der Homo Sapiens ganze zweitausend Jahre lang nicht den richtigen Dreh fand, die Kraft von einem PS für seine Lastwagen zu nutzen. Es bedurfte erst eines genialen Einfalls, die Vormachtstellung des Ochsens im Transportwesen zu stürzen: man befreite das Pferd einfach vom kehleschnürenden Riemen und ersetzte dieses durch ein bequemes Kummet (Schultergeschirr), das es in einer Vorstufe als Brustblattgeschirr mit aller Wahrscheinlichkeit bereits im China des vierten vorchristlichen Jahrhunderts gab, in Europa aber erst im frühen Mittelalter auftauchte. Mit dieser Erfindung, die der Historiker Wilhelm Sandermann zu den größten Errungenschaften der Menschheit rechnet, war das vom Joch erlöste Pferd nun in der Lage, mehr zu leisten als der Ochse. Am Tag schaffte ein Pferdegespann ungefähr 40 Kilometer, ein Ochsengespann dagegen nur fünfundzwanzig. Landwirtschaft und Verkehr erlebten nicht zuletzt durch die neu gewonnene Zugkraft einen gewaltigen Aufschwung.

Im Mittelalter ritt der vornehme Herr hoch zu Ross. Mit dem Wagen reisten nur Alte, Kranke, gefangene Verbrecher und Frauen. Bis in die Neuzeit, so der Historiker Norbert Ohler, galt das Reitpferd als Statussymbol von Adel, Ritter und Bischöfen. Der größte Teil der Bevölkerung konnte sich nicht einmal Brot leisten, geschweige denn ein Pferd. Es war »ein ernsthafter Nahrungskonkurrent des Menschen«, berichtet der Historiker, »weniger genügsam als der Esel, frisst es Hafer, ein wichtiges Grundnahrungsmittel für die Unterschicht«.