Verkehrsklima in neun europäischen Ländern: Rote Laterne für Deutschland

Das Verkehrsklima in Deutschland wird immer schlechter, so hört man vielerorts. Dabei stellt sich heraus, dass sich die Meinungen darüber, was überhaupt "Verkehrsklima" ist, deutlich unterscheiden. Außerdem lassen sich bislang keine objektiven Belege für eine Verschlechterung des Verkehrsklimas ausfindig machen. Eine neue Studie, an der sich die Bundesanstalt für Straßenwesen beteiligt hat, untersucht das wahrgenommene Verkehrsklima in neun europäischen Ländern. Danach schneidet Deutschland am schlechtesten ab, Finnland am besten.

Bild 1: copyright Yiucheung - fotolia

Was ist das Verkehrsklima?

Klima hat auch immer etwas mit Empfinden zu tun. Beim Wetter fühlen Menschen zwischen kalt und heiß oder  behaglich und unbehaglich. Beim Betriebsklima liegen zum Beispiel Gefühle zwischen zufrieden und unzufrieden oder zwischen angenehm und unangenehm. Beim Verkehrsklima können Empfindungen zwischen freundlich und aggressiv oder zwischen höflich und rau liegen. Emotionen prägen das von Verkehrsteilnehmern erlebte Verkehrsklima, und sie entstehen aus der Interaktion zwischen Verkehrsteilnehmern, genauer aus der Wahrnehmung und Bewertung dieser Interaktionen. Interaktionen können im offenen Verhalten zum Ausdruck kommen, oder aber auch in der verbalen wie non-verbalen Kommunikation. Zum Beispiel können Verkehrsteilnehmer dicht auffahren, sich anbrüllen oder aber auch nur den Vogel zeigen. Eine solche Definition von Verkehrsklima wurde in einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen zugrundegelegt, die darauf ausgerichtet war ein entsprechendes Messinstrument zur Erfassung des Verkehrsklimas zu erstellen und zu prüfen.

Verkehrsklima im europäischen Vergleich

Eine gekürzte Fassung dieser Verkehrsklima-Skala wurde in der europaweiten Befragungsstudie ESRA (E-Survey of Road Users’ Attitudes) eingesetzt, an der insgesamt 32 Länder teilnehmen. Neun von ihnen haben diese Skala in ihrer Befragung berücksichtigt (N=11.026): Österreich, Schweiz, Deutschland, Dänemark, Griechenland, Finnland, Irland, Italien und Ungarn. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, wie sehr sie zustimmen, dass der Umgang zwischen Verkehrsteilnehmern als aggressiv, hilfsbereit, rau oder rücksichtsvoll empfunden wird. Aus den Antworten der vier Aspekte wurde ein Summenwert berechnet, der die Kenngröße für das von den Befragten wahrgenommene Verkehrsklima darstellt.

Bei einem Ländervergleich zeigt sich für Finnland das positivste Verkehrsklima (hoher Summenwert), gefolgt von Irland, Dänemark und der Schweiz. Am schlechtesten wird das Verkehrsklima in Deutschland empfunden (vergleichsweise niedriger Summenwert), dicht gefolgt von Ungarn und Italien (Bild 2).

Bild 2: Eigene Berechnungen (N=11.026 Autofahrende und Nicht-Autofahrende). Die rote Umrandung an den blauen Punkten steht für einen signifikanten Unterschied eines Landes zum wahrgenommen Verkehrsklima der befragten Deutschen. Hintergrundbild: Copyright James Thew - Fotolia.

Über die Gründe dieser Unterschiede lässt sich nur mutmaßen, es liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Denkbar wäre, dass die Wahrnehmung des Verkehrsklimas von den persönlichen verkehrsbezogenen Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten beeinflusst wird. Um diese Annahme zu prüfen, wurden für jedes der neun Länder Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten von Autofahrern und -fahrerinnen (N=7.896) berechnet und zum Verkehrsklima in Beziehung gesetzt.

Erfasst wurden drei Bereiche von verkehrssicherheitsrelevanten Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten. Das waren die Bereiche Ablenkung, Fahren unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen und Geschwindigkeit. Stark positiv ausgeprägte Erwartungen (z.B. dargestellt in Bild 3 durch einen hohen z-Wert von 0.5) stehen für eine stark ausgeprägte subjektive Sicherheit, z.B. beim Fahren mit hoher Geschwindigkeit oder beim Telefonieren während der Fahrt. Umgekehrt bedeutet eine niedrig ausgeprägte Erwartung eine mehr oder weniger stark reduzierte subjektive Sicherheit.

Für die Verhaltensgewohnheiten gilt Entsprechendes. Eine starke Ausprägung des jeweiligen Verhaltens wird durch einen deutlich positiven z-Wert in Bild 4 angegeben, eine geringe Ausprägung durch einen deutlich negativen z-Wert.

Bild 3: Eigene Berechnungen (N=7.896 Autofahrer und -fahrerinnen). Hintergrundbild: Copyright James Thew - Fotolia.

Wie Bild 3 zeigt, lässt sich kein systematischer Zusammenhang zwischen den Erwartungen der drei Risikobereiche und dem wahrgenommenen Verkehrsklima feststellen. Das zeigen auch die drei Korrelationen (-.08, .004 und .042). Die Länder unterscheiden sich zwar in der Ausprägung dieser Erwartungen, jedoch spiegeln sich diese Unterschiede nicht systematisch in der Wahrnehmung des Verkehrsklimas der neun Länder wider. Gleiches gilt auch für die drei Verhaltensgewohnheiten (siehe Bild 4). Auch hier sind die Korrelationen mit dem Verkehrsklima bedeutungslos (-.05, .02 und ,05).  Mit anderen Worten: Das wahrgenommene Verkehrsklima, das durch die spezifischen Interaktionen zwischen den Verkehrsteilnehmern entsteht, ist unabhängig von persönlichen, sicherheitsrelevanten Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten.

Bild 4: Eigene Berechnungen (7.896 Autofahrer und -fahrerinnen). Hintergrundbild: Copyright James Thew - Fotolia.

Weitere Analysen für Autofahrende und Nicht-Autofahrende (N=11.026) ergab Folgendes:
  1. Männer bewerten das Verkehrsklima positiver als Frauen (p=.015). Es bestehen keine länderspezifischen Besonderheiten (keine statistischen Interaktionen zwischen Geschlecht und Land).
  2. Ältere bewerten das Verkehrsklima positiver als Jüngere (p=.000). Es bestehen zwar keine statistisch abgesicherten länderspezifischen Besonderheiten, jedoch lassen sich einige Tendenzen erkennen: In der Schweiz und in Irland beurteilen die ab 75-Jährigen das Verkehrsklima deutlich positiver als die jüngeren Altersgruppen. In Österreich, Deutschland und Italien beurteilen die 25-64-Jährigen das Verkehrsklima schlechter als alle anderen Altersgruppen.
  3. Über alle neun europäischen Länder hinweg besteht kein Unterschied in der Beurteilung des Verkehrsklimas zwischen Befragten, die in der Stadt wohnen, und Befragten aus ländlichen oder semiurbanen Gebieten (p=.314). Jedoch bestehen signifikante länderspezifische Besonderheiten (p=.039). So beurteilen in Österreich und Ungarn Befragte aus städtischen Gebieten das Verkehrsklima deutlich negativer als Befragte aus ländlichen oder semiurbanen Gebieten. Für Finnland beurteilen tendenziell die Städter das Verkehrsklima positiver als Personen aus ländlichen oder semiurbanen Gebieten.
Fazit

Das wahrgenommene Verkehrsklima, das durch die spezifischen Interaktionen zwischen den Verkehrsteilnehmern definiert wird, ist unabhängig von persönlichen, sicherheitsrelevanten Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten. Damit erweist sich die Definition des Verkehrsklimas von der Bundesanstalt für Straßenwesen als trennscharf. Die Frage, was wiederum die Wahrnehmung und Bewertung von Interaktionen zwischen Verkehrsteilnehmern beeinflusst, wurde noch nicht hinreichend erforscht. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere Erlebnisse und Emotionen, die mit bestimmten Begegnungssituationen verbunden werden, die Beurteilung des Verkehrsklimas prägen. Auch Vorurteile und nationale Eigenheiten dürften einen wichtigen Beitrag in der Beurteilung anderer Verkehrsteilnehmer und damit auch in der Beurteilung von Interaktionen leisten.


Literatur

Schade, J., Rößger, L., Eggs, J., Follmer, R. & Schlag, B. (2019). Entwicklung und Überprüfung eines Instruments zur kontinuierlichen Erfassung des Verkehrsklimas. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 289. Bremen: Fachverlag NW in der Carl Ed. Schünemann KG.