Schriftliche Fassung zum gleichnamigen Vortrag anlässlich des 58. Deutschen Verkehrsgerichtstags in Goslar, 29.-31. Januar 2020, Arbeitskreis III „Aggressivität im Straßenverkehr“.
In den Empfehlungen des 51. Deutschen Verkehrsgerichtstags in 2013 zum Arbeitskreis III „Aggressionen im Straßenverkehr“ wurde festgehalten, dass aggressive Verhaltensweisen im Straßenverkehr die Verkehrssicherheit gefährden und dass die durch aggressives Verhalten entstehenden Regelverletzungen von den bestehenden Regelungen grundsätzlich abgedeckt werden. Dementsprechend erhält die Empfehlung zur Umsetzung kommunikativer, edukativer und rehabilitativer Maßnahmen zur Sensibilisierung von Verkehrsteilnehmern für die Problematik aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr besonderes Gewicht. Um der komplexen Ursachenstruktur und den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Aggressionen Rechnung zu tragen, ist ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen erforderlich. Zur systematischen Feststellung des Umfangs und der Entwicklung von Aggressionen im Straßenverkehr wurde ein regelmäßiges Monitoring empfohlen (Deutscher Verkehrsgerichtstag, 2013).
Inzwischen wurde ein solches Monitoring im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) mit der Aufarbeitung des Kenntnisstandes zum Thema „Aggressionen im Straßenverkehr“ und der Entwicklung eines entsprechenden Erhebungsinstruments begonnen (Schade, Rößger, Eggs, Follmer & Schlag, 2019). Eine Fortsetzung des Monitorings ist in 2019 mit der Basis-Erhebung gestartet (1. Messung mit neu entwickeltem Instrumentarium). Weitere Erhebungen sind in regelmäßigen Abständen geplant.
Der Beauftragung zu diesem Monitoring ging ein Expertengespräch zum Thema „Aggressionen im Straßenverkehr“ am 12.12.2014 in der BASt voraus. Nach Ansicht der Experten kann ein regelmäßiges Monitoring zukünftig die Entwicklung von Aggressionen im Straßenverkehr und des Verkehrsklimas dokumentieren und somit eine Steuerungsgrundlage für weitere Maßnahmen bilden. Ein regelmäßiges Monitoring könnte unter zwei Perspektiven erfolgen: (1) Analyse der Entwicklung des Verkehrsklimas und (2) systematische Erfassung der Prävalenz aggressiver Verhaltensweisen. Während die Erfassung des Verkehrsklimas auf subjektiven Angaben der Verkehrsteilnehmer basiert, stützt sich die Ermittlung der Prävalenz aggressiver Verhaltensweisen auf objektiven Daten. Die Expertengruppe regte an, im Rahmen einer Methodenstudie einen praktikablen und belastbaren Ansatz zur Ermittlung von subjektiven und objektiven Indikatoren bei der Erfassung des Verkehrsklimas und der Prävalenz aggressiver Verhaltensweisen zu entwickeln. Es wurde darauf hingewiesen, dass insbesondere bei der Wahl objektiver Indikatoren ein sorgfältiger Bezug zu aggressiven Verhaltensweisen hergestellt sein muss, um solche Verhaltensweisen auszuschließen, die zwar gefährlich sind, aber nicht notwendigerweise auch als aggressiv anzusehen sind. Es sollte geprüft werden, inwieweit die Erhebung objektiver Indikatoren aggressiven Verhaltens über Beobachtungsstudien, über Analysen der Unfallstatistik oder über Analysen der Einträge im Fahreignungsregister (FAER) des Kraftfahrtbundesamtes erfolgen kann. Als Methode zur Erfassung des Verkehrsklimas würde sich nach Ansicht der Experten eine Repräsentativbefragung eignen (Holte, 2014).
Grundsätzlich lässt sich die Frage, wie häufig Aggressionen im Straßenverkehr vorkommen und wie sie reduziert werden können, nur beantworten, wenn eine allgemeingültige Definition zugrundegelegt wird, mit deren Hilfe sich Verhaltensweisen eindeutig als aggressiv kennzeichnen lassen. Entsprechendes trifft auch auf den Begriff „Verkehrsklima“ zu. Daher erfolgt vor der Darstellung des Kenntnisstandes zum Thema „Aggressivität im Straßenverkehr“ zunächst eine Begriffsklärung.
Aggressionen und Aggressivität: Begriffsklärung
In Praxis und Forschung bestehen ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, was im Straßenverkehr „aggressive Verhaltensweisen“ sind. Genannt werden häufig die in Bild 1 aufgeführten Verhaltensweisen von Autofahrern und -fahrerinnen. Erwähnt wird außerdem das Fahren mit zu hoher Geschwindigkeit oder illegale Autorennen.
Folgt man der Definition von Anderson und Bushman (2002), nach der Aggression ein physisches oder verbales Verhalten ist, mit dem beabsichtigt wird, eine andere Person zu verletzen oder ihr Schaden zuzufügen, dann können einige Verhaltensweisen, wie „dichtes Auffahren“ oder „knappes Einscheren“ nicht grundsätzlich als aggressiv bezeichnet werden, da nicht immer von einer festen Absicht auszugehen ist.
Eine Definition aggressiven Verhaltens im Straßenverkehr, die unter Experten weitgehend Zustimmung erlangt hat, stammt von Herzberg & Schlag (2006, S. 75): “Ein Verhalten im Straßenverkehr ist aggressiv, wenn es andere Verkehrsteilnehmer zu schädigen beabsichtigt (affektive Aggression) oder wenn es die Durchsetzung eigener Ziele intendiert, zu deren Erreichung die Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer in Kauf genommen wird (instrumentelle Aggression).“ Ein Verhalten, das nach dieser Definition als aggressives Verhalten bewertet wird, grenzt sich von einem Verhalten ab, das als Fehlverhalten zu verstehen ist. So kann ein zu dichtes Auffahren auch aus Unachtsamkeit (Fehlverhalten) erfolgen und wäre damit nicht als „aggressiv“ zu bezeichnen (vgl. Bornewasser & Unger, 2013; Uhr, 2014).
Eine besondere Schwierigkeit bei der Feststellung aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr liegt darin, dass aus der reinen Beobachtung nicht unmittelbar auf Aggression geschlossen werden kann. Es bedarf der Interpretation, ob ein bestimmtes Verhalten als aggressiv bezeichnet werden kann. Und um eine sichere Interpretation in einer konkreten Verkehrssituation leisten zu können, sind Kenntnisse über die gegebenen personenbezogenen (z.B. Ärger, Wut, Aggressivität, Ziele) und situativen Voraussetzungen (z.B. Stress, Termindruck) erforderlich. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel weder dem Laien noch dem Experten in ausreichendem Maße vor, daher lassen sich nur relativ wenige beobachtbare Verhaltensweisen im Straßenverkehr benennen, die eine zuverlässige Einstufung als „aggressiv“ aus der Perspektive einer psychologischen Definition von Aggression erlauben.
In der Forschung sind die Begriffe „Aggression“ und „Aggressivität“ unterschiedlich definiert. Während „Aggression“ für ein konkretes, beobachtbares aggressives Verhalten steht, wird „Aggressivität“ verwendet, wenn eine Disposition zu aggressiven Verhalten gemeint ist (u.a. Maag et al., 2003).
Verkehrsklima
Das Verkehrsklima ist geprägt durch die Interaktionen zwischen Verkehrsteilnehmern (z.B. aggressives oder rücksichtsvolles Verhalten). Diese enge Definition des Verkehrsklimas, wie sie auch von Schade et al. (2019) verwendet wird, ist vom Begriff „Verkehrssicherheitskultur“ zu unterscheiden. Verkehrssicherheitskultur umfasst nach Holte (2019a) alle subjektiven und objektiven verkehrssicherheitsrelevanten Gegebenheiten eines Landes. Dazu zählen zum Beispiel Normen, Werte, Einstellungen und Verhaltensgewohnheiten (z.B. Geschwindigkeitsverhalten, Nutzung von Sicherheitseinrichtungen), aber auch Gesetze, Überwachung, Infrastruktur oder Fahrzeugtechnik.
Das Verkehrsklima – und damit die Interaktionen zwischen Verkehrsteilnehmern - lässt sich prinzipiell über objektive und subjektive Indikatoren erfassen. Objektive Indikatoren für Interaktionsverhalten wären z.B. aggressive Verhaltensweisen bzw. Konflikte, Abstände oder Delikte. Die Problematik, die bei der Erfassung objektiver Indikatoren besteht, ist grundsätzlich die gleiche wie für die Erfassung konkreter aggressiver Verhaltensweisen. Diese wird an späterer Stelle näher ausgeführt. Ein subjektiver Indikator des Verkehrsklimas ist die Wahrnehmung und Bewertung sozialer Interaktionen im Straßenverkehr. Dieser lässt sich relativ einfach über Befragungen erfassen. Ein entsprechendes Erhebungsinstrument wurde im Rahmen eines BASt-Projekts von Schade et al. (2019) entwickelt und überprüft. Weitere Ausführungen hierzu finden sich an späterer Stelle.
Die Verkehrsklimastudien der Unfallforschung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) (2016) sind breiter angelegt. Sie schließen bei der Erfassung des Verkehrsklimas Fragen mit ein, die eher der Verkehrssicherheitskultur zuzuordnen sind. So zum Beispiel die Frage nach der subjektiven Sicherheit bzw. dem Sicherheitsempfinden sowie die Fragen nach der Nutzung des Handys oder der Häufigkeit des Helmtragens von Fahrrad- bzw. Pedelec-Fahrern und Fahrerinnen.
Ursachen aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr
Personenbezogene Ursachen
Menschen unterscheiden sich darin, wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie die vielfältigen Informationen verarbeiten und zu Entscheidungen kommen, wie sie fühlen, welche Motive ihr Verhalten steuern, wie sie mit Stresssituationen und Belastungen umgehen und wie sehr bestimmte stabile Personenmerkmale das eigene Verhalten steuern. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass ihr Verhalten durch Erwartungen gesteuert wird, mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger automatisch, und die ihrerseits von den gegebenen Personen- und Situationsmerkmalen beeinflusst werden (Holte, 2012). Diese Erwartungen spiegeln ein oft fehlendes Bewusstsein über mögliche Tatfolgen, eine falsche Interpretation der Absichten anderer Verkehrsteilnehmer, geringe mit der Tat verbundene subjektive Kosten (geringe Sanktionshöhe, geringer Aufwand), eine geringe subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit, einen hohen mit der Tat verbundenen subjektiven Nutzen (z.B. Spaß haben, besonderen „Kick“ erleben, Spannungsabbau, Akzeptanzsteigerung bei Freunden oder Bekannten) sowie die Selbstwahrnehmung, dass die betreffende Person sich befähigt sieht, aggressive Verhaltensweise auszuführen, ohne sich selbst zu gefährden.
Insbesondere folgende Personenmerkmale begünstigen aggressive Verhaltensweisen im Straßenverkehr:
(1) Emotionen: Ärger, Stresserleben, Zeitdruck erleben, Gefühl der Gleichgültigkeit, ein starkes Gefühl der Anonymität (Ellison-Potter, Bell & Deffenbacher, 2001) oder mangelndes Einfühlungsvermögen. Mangelndes Einfühlungsvermögen (Empathie) führt dazu, dass sich die Täter nicht genügend in die Situation ihrer potenziellen Opfer hineinversetzen können. Die Folge ist eine geringere Hemmschwelle für das Ausleben aggressiver Impulse aufgrund von Ärger, Frustration oder Wut. Auch die empfundene Anonymität lässt die Hemmschwelle für aggressive Verhaltensweisen herabsinken. Empfundene Gleichgültigkeit basiert auf Einstellungen, persönlichen Werthaltungen und moralischem Empfinden und kann durch widrige Lebensumstände verstärkt werden. Wer nichts zu verlieren hat, der braucht sich auch nicht um mögliche negative Folgen des eigenen Verhaltens zu sorgen. Eine realistische Folgenabschätzung kann Verkehrsteilnehmer davon abhalten, sich aggressiv zu verhalten. Dieser „Schutz“ ist jedoch aufgehoben, wenn hinsichtlich der Konsequenzen für andere und eventuell auch für sich selbst Gleichgültigkeit besteht.
(2) Personenwahrnehmung: Zuschreibung von Verantwortung (z.B. Lennon & Watson, 2015), Status, Vorurteile (z.B. Bornewasser, 2013) und Personenmerkmale. Auftretende Frustrationen oder Ärger spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung aggressiver Verhaltensweisen. Ganz entscheidend dabei jedoch ist, wie ein verärgerter Verkehrsteilnehmer die jeweilige Verkehrssituation interpretiert. Schreibt zum Beispiel ein Autofahrer einem Drängler eine Absicht zu, ihn von der linken auf die rechte Spur der Autobahn abdrängen zu wollen, dann wird eine aggressive Gegenreaktion (z.B. durch Blockieren) mit großer Wahrscheinlichkeit stärker ausfallen, als wenn der Bedrängte eine solche Absicht nicht wahrnimmt. Das Unterstellen einer Absicht ist häufig fehlerbehaftet, da es ja kaum eine Möglichkeit gibt, diese Annahme zu verifizieren.
(3) Persönlichkeitsmerkmale: Temperament (Impulsivität, Sensation Seeking), Lebensstil (Holte, 2012), Ärgerneigung („Trait-Anger, Driving-Anger“) (Dahlem & White, 2006), emotionale Stabilität (Dahlem & White, 2006) oder Frustrationstoleranz. Sensation Seeker (Abenteuerlust) begehen häufiger Verkehrsverstöße (Herzberg, 2001), verhalten sich häufiger aggressiv am Steuer (Jonah 2001, Dahlem & White, 2006) und fahren riskanter als Nicht-Sensation Seeker (Herzberg, 2001). Aggressives Verhalten beim Autofahren korreliert positiv mit Impulsivität (Dahlem, Martin, Ragan & Kuhlmann, 2005) und negativ mit emotionaler Stabilität (Dahlem & White, 2006). Als mögliche Ursache für aggressive Verhaltensweisen im Straßenverkehr kann auch eine relativ stark ausgeprägte Aggressivität der handelnden Person sein. Aus der Fachliteratur geht hervor, dass Personen mit einem erhöhten Aggressionspotenzial ein aggressiveres oder risikoreicheres Verhalten im Straßenverkehr aufweisen (Arnett, Offer & Fine, 1997; Lajunen & Parker, 2001; Galovski, Malta & Blanchard, 2006; Witthöft, Hofmann & Petermann, 2011; Hennessy, 2011).
(4) ADHS-Betroffene (Aufmerksamkeitsdefizit-, Hyperaktivitätsstörung): u.a. Probleme bei der Impulskontrolle (Malta, Blanchard & Freidenberg, 2005; Richards, Deffenbacher, Rosén, Barkley & Rodricks, 2006).
(5) Persönlichkeitsstörungen: z.B. antisoziale Persönlichkeit, Borderline-Störung, nazistische Persönlichkeitsstörungen oder histrionische Persönlichkeitsstörung. Bei diesen Störungen zeigen sich erhebliche Probleme bei der Affektregulation.
(6) Fähigkeiten: Menschen unterscheiden sich in der Fähigkeit mit Frustration, Ärger oder Wut umzugehen und somit auch in der Fähigkeit, Impulse zu steuern. Diese Fähigkeit ist im Jugendalter noch unzureichend ausgeprägt. Die Gründe dafür liegen zum einen im Mangel an Erfahrungen, zum anderen aber auch im noch nicht abgeschlossenen Reifungsprozess des Gehirns (u.a. Skala, 2019). Störungen der Impulskontrolle können aber auch auf psychische Störungen zurückzuführen sein, wie zum Beispiel auf das Borderline-Syndrom, auf manische Störungen, aber auch auf Suchterkrankungen.
Kontextabhängige UrsachenNeben den o.a. personenbezogenen Merkmalen begünstigen auch bestimmte Kontexteigenschaften bzw. Situationsmerkmale das Auftreten aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr. Die wichtigsten Situationsmerkmale werden nachfolgend dargestellt.
(1) Wachsende Fahrzeugdichte, höhere Jahresfahrleistung der Älteren und Inhomogenität des Verkehrsflusses: Die wachsende Anzahl von Fahrzeugen und die damit verbundene Inhomogenität des Verkehrsflusses (bedingt durch größere Geschwindigkeitsdifferenzen) führen zu mehr Begegnungssituationen zwischen Verkehrsteilnehmern und erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit von aggressiven Verhaltensweisen. Der Pkw-Bestand in Deutschland (Kraftfahrtbundesamt, 2019) erhöhte sich zwischen 2012 und 2018 um 9,8 % (von 42,9 Millionen auf 47,1 Millionen Pkw). Die Pkw-Fahrleistung in Kilometer stieg in Deutschland zwischen 2008 und 2017 (MiD 2008 und MiD 2017) um 2,8 %. Wie aus Bild 2 hervorgeht, gab es einen Anstieg der Jahresfahrleistung ab der Altersgruppe der 50-54-Jährigen. Der Anstieg der Jahresfahrleistung in der Gruppe der ab 75-Jährigen erhöhte sich sogar um knapp 95 Prozent. Dagegen sind die Fahrleistungen in den jüngeren Altersgruppen teilweise enorm gesunken. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung können zwei gegensätzliche Hypothesen zur Aggression von Pkw-Fahrern und –Fahrerinnen aufgestellt werden. (A) Die Aggressionen im Straßenverkehr nehmen ab, da der Anteil der Älteren zunimmt und da diese Gruppe eher rücksichtsvoll und weniger aggressiv fährt; (B) Die Aggressionen im Straßenverkehr nehmen zu, da aufgrund eines steigenden Anteils Älterer die Differenzgeschwindigkeiten (zu den Jüngeren) größerer werden, was mit einer Zunahme an Begegnungssituationen und möglichen Konflikten verbunden ist. Bislang liegen noch keine Studien zur Stützung der Hypothesen vor.
(2) Merkmale des Verkehrsraums: Ampelregelung, Baustellen, Verengungen, Stau, Verkehrsregelung oder Nutzung durch unterschiedliche Verkehrsteilnehmer (Nutzung von z. B. Pkw, Fahrrad, Motorrad, Motoroller, Pedelec oder E-Scooter). Alle diese Merkmale können bei den Verkehrsteilnehmern Ärger oder Frustration hervorrufen, was die Vorstufe zu einer aggressiven Handlung darstellt.
(3) Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer: Verhalten sich andere Verkehrsteilnehmer regelwidrig oder aggressiv, könnte dies auch der auslösende Grund für den Beginn eines Konfliktes zwischen den beteiligten Verkehrsteilnehmern sein. Eine Reduktion aggressiver Verhaltensweisen geht daher auch einher mit einer Verkehrskultur, in der sich alle Verkehrsteilnehmer mit mehr Rücksicht und den Regeln entsprechend verhalten.
(4) Soziale Kontrolle: Als soziale Kontrolle wird der Einfluss anderer Personen auf das Verhalten eines Einzelnen bezeichnet. Ein aggressiver Autofahrer, der die Tat alleine ausübt, ist keiner unmittelbaren sozialen Kontrolle ausgesetzt. Wird die Tat im Rahmen einer Gruppenaktivität begangen, so wird soziale Kontrolle über die Gruppennorm ausgeübt. Diese äußert sich in konkreten Erwartungen, Wünschen oder Forderungen der Mitfahrenden. Die Gruppennorm kann sich als Gruppendruck manifestieren und einen Einzelnen zu einem gruppenkonformen Verhalten „zwingen“. Der Straßenverkehr bietet ihren Nutzern häufig einen Freiraum sozialer Kontrolle.
(5) Fehlende Kommunikationsmöglichkeiten: Die Interpretation der Motive und Absichten anderer Verkehrsteilnehmer ist häufig fehlerhaft und begünstigt aggressive Verhaltensweisen. Dafür mitverantwortlich sind häufig die fehlenden Kommunikati-onsmöglichkeiten zwischen den Verkehrsteilnehmern. Die Kommunikation beschränkt sich weitgehend auf Gestik, Nutzung der Hupe oder Lichthupe.
(6) Überwachung und Sanktionen: Überwachung ist grundsätzlich ein probates Mittel, aggressive Verhaltensweisen im Straßenverkehr zu verhindern. Sie führt aber nur dann zu einer gewünschten Verhaltensänderung, wenn zwei wesentliche Voraussetzungen erfüllt sind - eine hohe Überwachungsdichte und eine abschreckende Sanktionshöhe.
(7) Generell ungünstige Lebensumstände: Ungünstige Lebensumstände wirken sich häufig negativ auf die menschliche Psyche aus. So können Frustrationen, Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit oder Aggressionen zum Beispiel aufgrund von Arbeitslosigkeit, finanzieller Probleme, Zeitdruck, des Verlustes eines Partners, eines schwachen familiären Zusammenhalts oder einer geringen Lebensqualität ausgelöst werden. Solche Emotionen können das Verhalten einer Person in einer ganz konkreten Verkehrssituation beeinflussen.
(8) Automatisierung: Das Fahren eines automatisierten Autos kann Emotionen gesteuertes Fahrverhalten verdrängen und zur Homogenisierung des Straßenverkehrs beitragen. Dadurch können Aggressionen und konfliktreiche Begegnungen vermieden werden. Allerdings können auch Aggressionen zwischen denen, die ein automatisiertes und ein nicht-automatisiertes Fahrzeug fahren, entstehen, zum Beispiel dann, wenn ein automatisiertes Fahrzeug Anlass für die Entstehung von Ärger von Fahrzeugführern nicht-automatisierter Autos werden. Entsprechende Forschung hierzu liegt bislang noch nicht vor.
Aggressive Verhaltensweisen im Straßenverkehr: Häufigkeit und Veränderung
Schenkt man der Medienberichterstattung der letzten Jahre Glauben, so sei eine Zunahme aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr zu verzeichnen. Eine solche Entwicklung kann wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Eine Analyse der einschlägigen Literatur von Schade et al. (2019) ergab, dass es nicht möglich ist, die Häufigkeit aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr zuverlässig anzugeben. Somit ist auch eine zuverlässige Beurteilung der Entwicklung solcher Verhaltensweisen nicht gegeben. Die Probleme, die mit der objektiven Erfassung aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr verbunden sind, sind vielschichtig. Verkehrsbeobachtungen müssten repräsentativ durchgeführt werden, was mit einem enormen Erhebungs- und Kostenaufwand verbunden wäre. Darüber hinaus ergeben sich Interpretationsprobleme, zum Beispiel bei der Beobachtung von Abständen. Bei welchem Abstand kann von einem aggressiven Verhalten gesprochen werden? Bestimmte Verstöße oder Delikte (Fahreignungsregister FAER) wären als Indikatoren für Aggressionen im Straßenverkehr geeignet, wenn ihre Erfassung unabhängig von der Überwachungstätigkeit der Polizei wäre. Umfang und Ausrichtung der Verkehrsüberwachung können stark variieren, so dass eine Veränderung in der Zahl der Delikte auch auf die Überwachungstätigkeit zurückgeführt werden kann. Als Aggressionsdelikte gelten folgende erfüllte Straftatbestände: § 315d StGB (verbotene Kraftfahrzeugrennen), § 3115c StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs), § 315b StGB (Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr), 240 StGB (Nötigung), § 185 StGB (Beleidigung), § 241 StGB (Bedrohung), § 223 ff StGB (alle Formen der vorsätzlichen Körperverletzung) und § 303 StGB (Sachbeschädigung).
Die Entwicklung aggressiven Verhalten aus der Unfallstatistik abzuleiten, ist ebenfalls mit Problemen behaftet. Aus den Unfallursachen kann in der Regel nicht sicher entnommen werden, in welchem Umfang aggressives Verhalten zum Unfall beigetragen hat, so zum Beispiel bei der Frage, inwieweit das Fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit oder Missachtung der Vorfahrt als aggressive Verhaltensweisen einzustufen sind. Außerdem sind Unfälle relativ seltene Ereignisse. Eine daraus abgeleitete Schätzung aggressiver Verhaltensweisen würde zu einer Fehleinschätzung führen, insbesondere auch aufgrund einer hohen Dunkelziffer bei Radfahrenden.
Verkehrsklima
Diagnose des Verkehrsklimas
Wie bereits oben erwähnt, definiert sich der Begriff „Verkehrsklima“ über die Interaktion zwischen Verkehrsteilnehmern. Bei einer subjektiven Betrachtung des Verkehrsklimas stehen die Wahrnehmung und die Bewertung von Interaktionen im Vordergrund. Damit wird angegeben, wie Verkehrsteilnehmer den Umgang mit anderen Verkehrsteilnehmern erleben, ob dieser z.B. rücksichtsvoll oder aggressiv wahrgenommen wird.
Im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen wurde eine Skala zur Erfassung des Verkehrsklimas entwickelt und im Rahmen einer Repräsentativbefragung (N=2004) geprüft (Schade et al., 2019). Diese Skala besteht aus 6 bipolaren Eigenschaftspaaren (6 Items) und einem Gesamturteil über das Verkehrsklima (sehr gut bis sehr schlecht): Die Befragten wurden gebeten anzugeben, wie sie den Umgang zwischen Verkehrsteilnehmern im Allgemeinen im Hinblick auf angespannt-harmonisch, aggressiv-freundlich, egoistisch-hilfsbereit, unfair-fair, fordernd-nachgiebig und rau-höflich empfinden. Die Antwortskala reichte jeweils von -3 bis +3.
Durch Addition der Werte für die einzelnen Items wird ein Gesamtscore gebildet, der sich als sehr zuverlässig erwies (Cronbachs Alpha = .86). Dieser Summenwert wurde anschließend in einen T-Wert transformiert. Dieser hat einen Mittelwert von 50 und eine Standardabweichung von 10. Ein T-Wert kleiner als 50 bedeutet eine negative Beurteilung des Verkehrsklimas, ein Wert größer als 50 eine positive Beurteilung. Der T-Wert für ganz Deutschland beträgt 50, befindet sich also exakt in der Mitte. Die Unter-schiede zwischen den T-Werten verschiedener Altersgruppen sind geringfügig: bei den 18-25-Jährigen 51,5, bei den 26-45-Jährigen 49,6, bei den 46-64-Jährigen 48,6 und Personen im Alter von 65 und älter 52. Das bedeutet, dass das Verkehrsklima weder besonders positiv noch besonders negativ gesehen wird. Der Gesamtmittelwert verdeckt mögliche Unterschiede, die zwischen Regionen, Bundesländern oder verschiedenen Verkehrsteilnehmergruppen bestehen. Für die derzeit laufende Basis-Erhebung (AP-Projekt F1100.4318010 der BASt) und für zukünftige Erhebungen des Verkehrsklimas sollte daher der Fokus der Analysen auf unterschiedlichen Regionen bzw. Städten und Verkehrsteilnehmergruppen gerichtet werden.
Eine weitere Repräsentativbefragung zum Verkehrsklima hat die BASt im Rahmen des ESRA-Projekt („E-Survey of Road users’ Attitudes”) durchgeführt. ESRA basiert auf einer repräsentativen Online-Befragung, an der sich weltweit 32 Länder mit zusammen mehr als 35.000 Befragten beteiligt haben. Die Frage nach dem Verkehrsklima wurde von der BASt als Zusatzfrage eingebracht, die optional von den beteiligten Ländern ebenfalls gewählt werden konnte. Neun europäische Länder haben diese Skala in ihrer Befragung berücksichtigt (N=11.026, darunter 7.896 Pkw-Fahrerinnen und -Fahrer): Österreich, Schweiz, Deutschland, Dänemark, Griechenland, Finnland, Irland, Italien und Ungarn. Für diese Studie wurde die Verkehrsklima-Skala der BASt auf vier Eigenschaften reduziert: aggressiv, hilfsbereit, rau und rücksichtsvoll. Außerdem wurde für diese Erhebung die Frageart geändert und auf eine Eigenschaftspaarung verzichtet. Zur Aussage z.B. „Den Umgang zwischen Verkehrsteilnehmern im Allgemeinen empfinde ich als aggressiv“ wurden die Befragten gebeten anzugeben, inwieweit sie dieser Aussage zustimmen. Auch diese gekürzte Skala erwies sich mit einem Cronbachs Alpha von .77 als zuverlässig. Aus den Antworten zu den vier Eigenschaften wurde ein Summenwert berechnet, der die Kenngröße für das von den Befragten wahrgenommene Verkehrsklima darstellt.
Für Finnland ergab sich das positivste Verkehrsklima (hoher Summenwert), gefolgt von Irland, Dänemark und der Schweiz. Am schlechtesten wird das Verkehrsklima in Deutschland empfunden, gefolgt von Ungarn und Italien (Bild 3). Die Wahrnehmung des Verkehrsklimas der deutschen Befragten unterscheidet sich signifikant von den Befragten aus Österreich, Schweiz, Dänemark, Griechenland, Irland und Finnland.
Der Grund für diese deutlichen Unterschiede zwischen den Ländern, so die Annahme, liegt möglicherweise in der unterschiedlichen Wahrnehmung von persönlichen verkehrsbezogenen Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten oder des Sicherheitsempfindens. Um diese Annahme zu prüfen, wurden Erwartungen, Verhaltensgewohnheiten und das Sicherheitsempfinden von Autofahrern und -fahrerinnen (N=7.896) aus den beteiligten Ländern zum Verkehrsklima in Beziehung gesetzt. Bild 4 zeigt, dass das Sicherheitsempfinden der Befragten in keinem systematischen Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Verkehrsklimas steht. Die Korrelation zwischen den beiden Konzepten beträgt .07 über alle neun Länder. Die entsprechenden Korrelationen für jedes der neun Länder liegen zwischen -.01 (Italien) und .15 (Finnland, Irland, Griechenland).
Auch für die Erwartungen, die sich auf das Geschwindigkeitsverhalten, das Fahren beim Abgelenktsein oder das Fahren bei Beeinträchtigung durch Alkohol oder Drogen beziehen, korrelieren nicht oder nur geringfügig mit dem Verkehrsklima. Die Korrelationen für die Gesamtgruppe der neun Länder betragen -.08 (Verkehrsklima und Erwartungen bzgl. Geschwindigkeitsverhalten), .02 (Verkehrsklima und Erwartungen bzgl. Ablenkung) und .008 (Verkehrsklima und Erwartungen bzgl. Beeinträchtigung). Gleiches gilt für den Zusammenhang zwischen dem Verkehrsklima und dem berichteten Fahrverhalten. Hier betragen die Korrelationen -.06 (Verkehrsklima und berichtetes Geschwindigkeitsverhalten), .03 (Verkehrsklima und Ablenkung) und .04 (Verkehrsklima und Beeinträchtigung).
Daraus lässt sich Folgendes ableiten: Wird das Verkehrsklima ausschließlich über wahrgenommene und bewertete Interaktionen zwischen Verkehrsteilnehmern definiert und entsprechend erfasst, so ist das Ergebnis dieser Messung unabhängig von verkehrssicherheitsrelevanten Erwartungen, Gewohnheiten und der subjektiven Sicherheit. Das heißt zum Beispiel: Eine Person mag das Verkehrsklima negativ beurteilen, sich dennoch als Autofahrer oder –fahrerin sicher fühlen und langsam oder aber auch schnell fahren.
Ein weiteres Ergebnis aus der BASt-Studie von 2019 (Reanalyse von Holte, 2019c) betrifft den Zusammenhang zwischen der Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen, der Wahrnehmung aggressiver Verhaltensweisen anderer und dem Verkehrsklima. Wie Bild 5 zeigt, besteht sowohl ein eher schwacher direkter als auch ein starker indirekter Effekt der Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen auf das Verkehrsklima. Je stärker diese Einstellung ausgeprägt ist, desto positiver wird das Verkehrsklima bewertet (direkter Effekt .21). Ein solcher Zusammenhang ist durchaus plausibel: Warum sollte eine Person, die eine positive Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen im Straßenverkehr besitzt, gleichzeitig der Meinung sein, dass das Verkehrsklima schlecht ist? Sie sind mit ihren Einstellungen und dem damit verbundenen Verhalten quasi Mitverursacher dieses Verkehrsklimas; dann würden sie sich ja selbst in ein schlechtes Licht rücken. Das wäre ein Widerspruch.
Wie aus Bild 5 ebenfalls hervorgeht, wandelt sich die Bewertung des Verkehrsklimas zum Negativen, je stärker die die Aggressionen anderer Autofahrer wahrgenommen wird (-.55). Das Pfadmodell zeigt deutlich, dass diese Wahrnehmung stark von der eigenen Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen beeinflusst wird (.58). Das heißt: Sobald die Aggressionen anderer als stark wahrgenommen werden, wird das Verkehrsklima negativ bewertet, auch dann, wenn die befragten Personen selbst eine positive Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen im Straßenverkehr besitzen.
Wahrgenommene Änderungen des Verkehrsklimas
Insgesamt 53 % der Befragten einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (2016) gaben an, dass der Straßenverkehr zunehmend von aggressivem Verhalten geprägt sei. Nach den Ergebnissen einer jüngst erschienenen repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, die im Auftrag des Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) durchgeführt wurde, erleben 90 % der Befragten 30- bis 59-Jährige den Straßenverkehr als ein Ort, wo sich Menschen rücksichtslos und teilweise aggressiv verhalten. Allerdings geht aus dieser Studie ebenfalls hervor, dass 81 % der Befragten generelle eine Zunahme der Aggressivität in unserer Gesellschaft wahrnehmen (GDV, 2019). Bereits vor mehr als 16 Jahren wurde sowohl von befragten Autofahrern als auch von Polizisten und Richtern eine Zunahme aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr wahrgenommen (u.a. Maag et al., 2003).
Auf die Frage, ob sich das Verkehrsklima in den letzten drei Jahren verändert hat (verbessert, gleich geblieben, verschlechtert), haben in der o.a. BASt-Studie (Schade et al., 2019) 56 % der repräsentativ Befragten mit einer Verschlechterung geantwortet. In der Gruppe der Autofahrer waren es 62 %, bei den Radfahrenden 42 %, bei ÖPNV-Nutzern 51 % und bei Fußgängern 59 %.
Für die Wissenschaft stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass in Befragungen eine Verschlechterung des Verkehrsklimas wahrgenommen wird. Fünf mögliche Gründe stehen zur Diskussion:
(1) Eine Verschlechterung des Verkehrsklimas hat tatsächlich (objektiv) stattgefunden.
(2) Es besteht ein Definitionsproblem: Experten und Verkehrsteilnehmer besitzen unterschiedliche, implizite Vorstellungen darüber, was Verkehrsklima ist (z.B. Stress, Sicherheit, Aggressionen).
(3) Medienpräsenz: In den Medien wird zunehmend über das Thema „Aggressionen im Straßenverkehr“ berichtet. Diese zunehmende Berichterstattung beeinflusst die Wahrnehmung der Häufigkeit aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr der Rezipienten („Verfügbarkeitsheuristik“): Je mehr in den Medien darüber berichtet wird, umso häufiger wird das Vorkommen von Aggressionen im Straßenverkehr wahrgenommen.
(4) Sensibilisierung der Verkehrsteilnehmer: Die Medienberichterstattung sowie Kampagnen tragen zu einer Sensibilisierung der Verkehrsteilnehmer im Hinblick auf das Vorkommen und die Gefährlichkeit aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr bei. Eine mögliche Folge ist eine stärkere Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung solcher Verhaltensweisen.
(5) Generalisierung: Wenn wahrgenommen wird, dass insgesamt Aggressionen in der Gesellschaft zunehmen, dann wird das möglicherweise auch auf den Straßenverkehr übertragen. Generalisiert werden sollte auch nicht über Personen, Orten und Zeiten. Wenn zur Rush Hour und unter Zeitdruck Verkehrsteilnehmer als rücksichtslos oder egoistisch erlebt werden, so heißt das nicht, dass Verkehrsteilnehmer sich grundsätzlich rücksichtslos oder egoistisch im Straßenverkehr verhalten.
(6) Verkehrsdichte und Verkehrsfluss: Je stärker Verkehrsteilnehmer eine Verdichtung oder Verlangsamung des Straßenverkehrs wahrnehmen, umso größer wird der Ärger darüber, dass es so ist. Ärger ist ein entscheidender Wegbereiter aggressiver Verhaltensweisen.
Maßnahmen
Aus der vorangegangenen Darstellung möglicher Ursachen aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr werden Zielsetzungen für Maßnahmen abgeleitet. Dadurch wird festgelegt, welche Veränderungen erforderlich sind, um eine Reduktion aggressiver Verhaltensweisen zu erreichen. Diese Veränderungen beziehen sich (1) auf die Person und (2) auf den situativen Kontext.
(1) Ziele, die aus den personenbezogenen Ursachen für die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen zwischen Verkehrsteilnehmern abgeleitet sind:
• realistische Abschätzung der Folgen aggressiver Verhaltensweisen
• Erhöhung der subjektiven Entdeckungswahrscheinlichkeit (erwischt zu werden)
• Erhöhung der subjektiven Kosten, die mit dem eigenen Verhalten verbunden sind (erwartete Strafen)
• Verringerung des subjektiven Nutzens, der mit dem eigenen Verhalten verbunden ist (erwarteter Nutzen)
• Sensibilisierung für die Perspektive der Opfer
• Umgang mit Emotionen (Impulskontrolle), Belastungen und Konflikten lernen
• Auflösung des Gefühls der Anonymität
• Reduktion von Gleichgültigkeit
• Stärkung prosozialer Einstellungen und Werte
• Anwendung von Therapien für antisoziale Persönlichkeiten oder aggressive Personen.
(2) Ziele, die aus den kontextbezogenen Ursachen für die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen zwischen Verkehrsteilnehmern abgeleitet sind:
• Erhöhung der objektiven Entdeckungswahrscheinlichkeit (Überwachung)
• Erhöhung der objektiven Kosten für aggressive Verhaltensweisen (Sanktionen)
• Verstärkung der sozialen Kontrolle (z.B. durch Einfluss der Bezugsgruppe): Entwicklung und Umsetzung von Programmen zur Verstärkung der sozialen Kontrolle (z.B. Peer-Programme, Eltern-Programme)
• Homogenisierung des Verkehrsflusses
• Nutzung von Fahrerassistenzsystemen und Automatisierung
• Verbesserung der Lebensumstände
Zur Verbesserung des Verkehrsklimas wird ein Bündel aufeinander abgestimmte Maßnahmen empfohlen, die den vier folgenden Bereichen zugeordnet werden:
A. Selbstkontrolle: Empfohlen wird die Entwicklung und Umsetzung kommunikativer Maßnahmen, mit der eine Verbesserung der Selbstbeherrschung und des Umgangs mit Ärger, Konflikten und Stress erreicht werden soll, oder die dazu beiträgt, Ärger, Konflikte und Stress zu vermeiden, stärker Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer zu nehmen und mental einen Perspektivenwechsel vornehmen zu können. Darüber hinaus ist es wichtig, Verkehrsteilnehmer über die Ursachen und Folgen aggressiver Verhaltensweisen aufzuklären. Eine Umsetzung der o.g. Ziele kann grundsätzlich im Rahmen kommunikativer Strategien erfolgen. Hierzu gehören Kampagnen, Fahraus-bildung, Weiterbildungsmaßnahmen, schulische Verkehrserziehung oder Trainings. Aber auch über eine breite Thematisierung aggressiver Verhaltensweisen und ihre möglichen Konsequenzen in der Öffentlichkeit (Agenda Setting) wird als zielführend angesehen. Zu nennen wären hier klassische Kommunikationskanäle, Online-Kommunikation, Kommunikation über soziale Netzwerke oder durch personale Kommunikation in Gruppensitzungen (z.B. in Berufsschulen). Für die Minorität der im Straßenverkehr aufgrund spezifischer Persönlichkeitsstrukturen auffälligen Personen sind rehabilitative Maßnahmen zielführend. Denkbar wäre die Entwicklung und Umsetzung eines Schulungsprogramms, das speziell auf Personen mit ausgeprägtem Aggressionspotenzial ausgerichtet ist.
B. Fremdkontrolle: Hierzu zählt die verhaltenswirksame Kontrolle über soziale Normen, Regeln, Gesetze und über Überwachung in Verbindung mit Sanktionen. Eine Erhöhung der Sanktionen ist ggf. bei bestimmten aggressiven Verhaltensweisen (z.B. Abstandsübertretungen) zielführend. Ihre Wirkung ist jedoch in erheblichem Maße von der polizeilichen Überwachung abhängig. Zusätzliche Regelungen, die sich explizit gegen aggressive Verhaltensweisen von Verkehrsteilnehmern richten, sind aus BASt-Sicht nicht erforderlich.
C. Verkehrsumwelt: Regelung, Planung und Gestaltung sind die Mittel, einer Verdichtung oder Verlangsamung des Straßenverkehrs entgegenzuwirken. Ziel ist es, durch Maßnahmen in diesem Bereich die Begegnungssituationen zwischen Verkehrsteilnehmern zu minimieren oder so zu steuern, dass eine konfliktfreie Interaktion zwischen ihnen gefördert wird. Eine Verbesserung in der Kommunikation zwischen Verkehrsteilnehmern würde hierzu beitragen. Maßnahmen zur Überwachung, Sanktionshöhe und zur Erhöhung der Homogenisierung des Verkehrsflusses sollten in einer Diskussion über eine Reduktion aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr berücksichtigt werden.
D. Fahrzeugtechnik: Die Entwicklung und Implementierung von Fahrerassistenzsystemen kann zur Reduktion aggressiver Verhaltensweisen beitragen, wie zum Beispiel das Einhalten eines sicheren Abstands. Automatisierung besitzt ein großes Potenzial, Aggressionen zu verringern, vorausgesetzt es besteht eine starke Durchdringung von Fahrzeugen mit Automatisierung. Je weniger durch Automatisierung das Fahrverhalten durch Emotionen und Motive (Erwartungen) gesteuert wird, umso weniger Aggressionen sind zu erwarten.
Ausblick
Die in der Wahrnehmung von Verkehrsteilnehmern verankerte Zunahme von Aggressionen im Straßenverkehr oder eine Verschlechterung des Verkehrsklimas konnte mit objektiven Kenngrößen bislang nicht bestätigt werden. Der wesentliche Grund hierfür sind fehlende zuverlässige objektive Indikatoren, deren Änderungen unabhängig von den sie beeinflussenden verkehrlichen Gegebenheiten sind. So ist zum Beispiel die Häufigkeit von Aggressionsdelikten u.a. abhängig vom Umfang und Ausrichtung der polizeilichen Überwachung. Für die zukünftige Erforschung aggressiver Verhaltensweisen im Straßenverkehr oder des Verkehrsklimas wird daher auf den subjektiven Angaben von Befragten zurückgegriffen. Die BASt schenkt dabei der Erforschung des Verkehrsklimas stärkere Aufmerksamkeit als die Erfassung einzelner von den Befragten wahrgenommenen aggressiven Verhaltensweisen. Wird das Verkehrsklima über die Wahrnehmung und Bewertung von Interaktionen zwischen Verkehrsteilnehmern definiert, so kann dies über relativ wenige Eigenschaften und einem Gesamturteil zum Verkehrsklima erfasst werden. Ein solch schlankes Erhebungsinstrument ist für ein Monitoring des Verkehrsklimas besonders geeignet.
Im Rahmen eines solchen Monitorings, das in regelmäßigen Abständen eine Messung vorsieht, sollten Veränderungen in der Wahrnehmung des Verkehrsklimas im Wesentlichen aus dem Vergleich von Messzeitpunkten vorgenommen werden. Die von den Befragten wahrgenommenen Veränderungen sollten lediglich zum Vergleich herangezogen werden. Die Analysen sollten sich nicht ausschließlich auf die Gesamtgruppe der repräsentativ Befragten beschränken, sondern Analysen für unterschiedliche Verkehrsteilnehmergruppen und insbesondere für spezifische Regionen wie Großstädte, ländliche Gebiete etc. berücksichtigen. Wie Analysen der ersten Verkehrsklimastudie der BASt zeigen, werden mögliche Unterschiede zwischen bestimmten Regionen oder Städten verdeckt, wenn die Analysen sich ausschließlich auf die Gesamtgruppe der Befragten beziehen.
Referenzen