Erwartungen steuern das Fahrverhalten

Informationen aus der Umwelt können auf zwei unterschiedlichen Wegen vom Gehirn verarbeitet werden. Die automatische Informationsverarbeitung funktioniert intuitiv und unbewusst, automatisch. Die kontrollierte Informationsverarbeitung dagegen erfolgt überlegt, bewusst und kontrolliert. Die automatische Informationsverarbeitung wird im Gehirn durch Schemata oder Skripte gesteuert, die kontrollierte Informationsverarbeitung durch Erwartungen in Hinblick auf eigene Fähigkeiten und soziale und nichts-soziale Konsequenzen des Verhaltens.

Schemata sind im Gedächtnis gespeicherte Wissenseinheiten, die sowohl kategoriales Wissen als auch Ereignisse, Geschichten oder bestimmte Szenen in bildhafter Form beinhalten und sehr schnell abrufbar sind. Skripte wiederum sind Schemata von Ereig-nisabfolgen, die bewirken, dass die einzelnen Schritte einer Handlungsabfolge, wie zum Beispiel der Gangwechsel beim Fahren, ohne Nachdenken durchgeführt werden. Verkehrsbezogene Schemata und Skripte werden durch Erfahrungen gebildet und beinhalten die Bewertung der Sicherheit von bestimmten Verkehrssituationen, die im Rahmen dieser Erfahrungen vorgenommen wurde. Sie beinhalten damit die Erwartungen, die sich auf mögliche Konsequenzen eines bestimmten Verhaltens beziehen.

Bild 1: Der Wunsch, auf einer Landstraße zu überholen (copyright Hardy Holte)

Bild 1 zeigt eine Landstraße mit Gegenverkehr. Ein Hinterherfahrender möchte den Transporter überholen. Das Schema, das automatisch aktiviert wird, hält ihn davon ab. Dieses Schema setzt sich im Wesentlichen aus den Komponenten Kurve, Gegenverkehr, Regen, schlechte Sicht, Tageslicht und vorausfahrender Transporter zusammen und beinhaltet - einmal angenommen - die Bewertung „sehr gefählich“. Der Autofahrer überholt nicht. Die Frage stellt sich nun, welche Komponenten der Situation müssen bei diesem Fahrer fehlen, damit er den Überholvorgang einleitet. Genügt ihm vielleicht be-reits das Fehlen des Gegenverkehrs? Wann ein Schema Gefahr oder Sicherheit signalisiert, ist individuell ganz unterschiedlich. Für einen Großteil der Fahrer bzw. Fahrerinnen dürfte allein die Komponente Kurve ein Schema bilden, dem das Attribut „gefährlich“ zugeordnet ist und somit vom Überholen abhält.

Besonders problematisch ist es jedoch, wenn aufgrund positiver Erfahrungen mit einer riskanten Fahrweise "falsche" Schemata gebildet werden, in denen das Verhalten in bestimmten Situationen als ungefährlich im Gedächtnis gespeichert wird, obwohl diese Situation objektiv gefährlich ist. Wiederholen sich solche Erfolgserlebnisse bei Autofahrern, stabilisieren sich die gefährlichen Schemata. Schemata sind relativ stabil und daher gegen über Änderungsversuchen zum Beispiel durch Kampagnen sehr widerstandsfähig. Daher bedarf es gut ausgearbeiteter und theoriebasierter Konzepte, um falsche bzw. nicht angemessene Schemata nachhaltig verändern zu können. Das ist ein wichtiges Ziel; denn die Gefahr in vielen Verkehrssituaionen wird oft nicht erkannt, weil dafür kein entsprechendes Schema im Gehirn abrufbar ist.

Mit der Speicherung von Schemata und Skripten verfügen Autofahrer über bestimmte Automatismen, die einen sparsamen Einsatz mentaler Ressourcen ermöglichen, die nun für die Verarbeitung wichtiger Informationen der Verkehrsumwelt verfügbar sind. Ein weiterer Vorteil ist die hohe Geschwindikeit ihrer Aktivierung und damit eine bessere Voraussetzung, Entscheidungen schnell treffen zu können.

So gesehen wird das Fahrverhalten in konreten Verkehrssituationen durch mehr oder weniger bewusste Erwartungen gesteuert. Diese können entweder integrale Bestandteile eines aktivierten Schemas sein oder das Ergebnis einer bewussten Wahrnehmung und Bewertung einer Verkehrssituation, in der kein Schema aktiviert ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Strecke unbekannt ist oder wenn sich eine vertraute Verkehrssituation plötzlich verändert (ein spielendes Kind am Straßenrand) und eine Neubewertung vorgenommen werden muss. Ist diese kontrollierte Informationsverarbeitung aktiv, findet in der Phase des Entscheidens eine Gewichtung bzw. ein „Abwägen“ der Bewertungen bezüglich der verschiedenen Erwartungen statt. Bei diesem Abwägen wird bestimmt, ob zum Beispiel die erwartete Handlungskompetenz ein stärkeres Gewicht bei der eigenen Entscheidung erhält als die möglichen, schädigenden Konsequenzen des eigenen Verhaltens. Dieser Vorgang erfolgt begrenzt rational, da die Erwartungen von mehr oder weniger starken Emotionen begleitet werden, die ihrerseits ein starkes Gewicht bei der Entscheidungsfindung haben.

Die Erwartungen lassen sich grob in drei unterschiedliche Gruppen aufteilen. Annerkennung von Freunden zu erwarten, ist ein Beispiel für erwartete soziale Konsequenzen; die Befürchtung, ein hohes Bußgeld bezahlen zu müssen, wenn man zu schnell gefahren ist, repräsentiert ebenfalls diesen Typ von Erwartung. Im ersten Fall handelt es sich um eine informelle, im zweiten um eine formelle erwartete soziale Konsequenz. Spaß zu haben beim Vollgasfahren auf der Autobahn, steht für einen Typ von Erwartungen, die zu den erwarteten nicht-sozialen Konsequenzen zählen. Das Vertrauen eines Autofahrers darauf, eine scharfe Kurve zugleich sportlich und sicher durchfahren zu können, ist ein Beispiel für die erwartete Handlungskompetenz, die der Sozialpsychologe Albert Bandura "Selbstwirksamkeitserwartung" genannt hat. Für Bandura lassen sich Einstellungen grundsätzlich auch als Erwartungen definieren. Man könnte auch sagen, dass sich Erwartungen in den Einstellungen widerspiegeln. Eine Einstellungsaussage „Autofahren macht Spaß“ spiegelt die Erwartung wider, dass Autofahren auch in Zukunft Spaß machen wird.

Erwartungen bilden die zentralen Komponenten des eigenen theoretischen Modells des Mobilitätsverhaltens, das in verschiedenen Studien der Bundesanstalt für Straßenwesen zugrundegelegt wurde und im Rahmen empirischer Prüfungen bestätigt werden konnte [1]. So hat sich gezeigt, dass je positiver die Einstellung zu höheren Geschwindigkeiten sowie die Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen ausgeprägt sind, umso häufiger wird ein Fahrstil berichtet, bei dem höhere Fahrgeschwindigkeiten eine Rolle spielen, und umso größer ist die Anzahl der berichteten Verstöße. Und je stärker das Vertrauen in die eigene Fahrkompetenz ist (Handlungskompetenzerwartung), umso häufiger spielen höhere Fahrgeschwindigkeiten eine Rolle.

Bestimmte Merkmale der Situation oder Person können die Entwickung von verkehrsbezogenen Erwartungen beeinflussen. Wie bereits erwähnt, sind dies auf Seite der Person insbesondere die eigenen Erfahrungen. Es können aber auch die Erfahrungen einer Peer-Gruppe sein, die Einfluss auf die eigenen Erwartungen haben. Darüber hinaus können Persönlichkeitsmerkmale wie zum Beispiel „Sensation Seeking“ (Abenteuerlust), „Impulskontrolle“ [1] oder Werthaltungen (z.B. die persönliche Wichtigkeit von Macht und Leistung) einen bedeutsamen Einfluss auf die Erwartungsbildung haben. So zeigte sich, dass je wichtiger das Streben nach Macht und das Erbringen von Leistung ist, um so stärker ist die Bindung zum Auto, die ihrerseits durch bestimmte Erwartungen zum Ausdruck kommt [2].

Ein für die Erwartungsbildung relevantes Merkmal der Situation ist die objektive Aufgabenschwierigkeit. Diese beeinflust in einem gewissen Ausmaß die subjektiv wahrgenommene Aufgabenschwierigkeit. Diese zusammen mit der persönlichen Einschätzung der Fahrkompetenz bilden die bereits oben erwähnte Handlungs-kompetenzerwartung. Die objektive Aufgabenschwierigkeit kann jedoch von der subjektiven in einem erheblichen Umfang abweichen, so dass objektiv betrachtet eine Fahraufgabe schwieriger ist, als sie subjektiv wahrgenommen wird. Der objektive Schwierigkeitsgrad einer Fahraufgabe ist gekoppelt an den infrastrukturellen und regelbezogenen Gegebenheiten der Verkehrsumwelt.

Der Gedanke, dass es zwei unterschiedliche Formen der Informationsverarbeitung gibt, die eine automatisch, die andere kontrolliert, und die parallel und interaktiv arbeiten, das wurde in den sogenannten Dual-Prozess-Theorien in der Psychologie aufgegriffen [3]. Diese sind wichtige Bestandteile der universitären psychologischen Ausbildung.


[1] Holte, H. (2012). Einflussfaktoren auf das Fahrverhalten und das Unfallrisiko junger Fahrerinnen und Fahrer. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 229, Bremerhaven, Bergisch Gladbach: Wirtschaftsverlag NW.

[2] Holte, H. (2018). Seniorinnen und Senioren im Straßenverkehr – Bedarfsanalysen im Kontext von Lebenslagen, Lebensstilen und verkehrssicherheitsrelevanten Erwartungen. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 285. Bremen: Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH.

[3] Epstein, S. (1994): Integration of the cognitive and the psycho-dynamic unconscious. American Psychologist, 49, 709-724; Fazio, H. (1990): Multiple processes by which attitudes guide behavior: The MODE Model as an integrative framework. Advances in Experimental Social Psychology, 23, 75-109; Slovic, P., Finucane, M.L., Peters, E. & MacGregor, D.G. (2004): Risk as analysis and risk as feelings: Some thoughts about affect, Reason, risk, and rationality. Risk Analysis, 24, 311-322.

Der Einfluss der Anderen

Junge Leute lassen sich oft von Gleichaltrigen beeinflussen. Das gilt zum Beispiel für den Konsum von Alkohol oder Drogen, das gilt jedoch auch für das Autofahren. Wie stark dieser Einfluss tatsächlich ist, geht aus einer neuen Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hervor. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass junge Leute dazu neigen, die verkehrsbezogenen Einstellungen und das Fahrverhalten ihrer Freunde falsch einzuschätzen.

Quelle: Deutscher Verkehrssicherheitsrat e.V., Bonn

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Wer gerne schnell fährt, der ist auch eher geneigt sich beim Fahren aggressiv zu verhalten

Das Fahren mit höherer Geschwindigkeit ist mit bestimmten Erwartungen verbunden. Sie betreffen die eigene Sicherheit, das eigene Können oder auch einfach den Spaß daran. Die Bundesanstalt für Straßenwesen konnte in zwei Studien zeigen, dass diese Erwartungen einen starken Einfluss auf die Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen im Straßenverkehr ausüben.

Bild 1: Copyright aleutie - Fotolia

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Erlebnishungrige fahren riskanter Rad

Menschen unterscheiden sich in der Intensität ihres Bedürfnisses nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen. Was für das Autofahren bereits nachgewiesen wurde, ist nun auch für Radfahrende belegt. Je stärker dieses Bedürfnis ausgeprägt ist, umso riskanter ist die Fahrweise und umso größer die Unfallgefahr.

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So wie man lebt, so fährt man

Junge Leute haben das höchste Unfallrisiko. Jedoch nicht alle 18- bis 24-Jährigen sind gleichermaßen im Straßenverkehr gefährdet. Einen Zusammenhang zwischen dem Lebensstil junger Leute und der Unfallgefährdung konnte bereits in den Neunzigern nachgewiesen werden. Die Erkenntnisse hierzu wurden in einer neuen Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen bestätigt und erweitert.

Wie in früheren Studien wurde der Lebensstil junger Leute im weitesten Sinne über deren "Geschmack" definert [1]. Dieser äußert sich zum Beispiel in den bevorzugten Freizeitaktivitäten, den Musik- und Filmvorlieben, der Affinität gegenüber bestimmten sozialen Gruppen sowie der gewünschten Wirkung auf andere durch eine bestimmte Art, sich zu kleiden. Datengrundlage war eine Repräsentativbefragung von insgesamt 2.084 Personen im Alter zwischen 17 und 34 Jahren [2]. Eine Clusteranalyse ergab insgesamt sechs Lebensstilgruppen - den kicksuchenden Typ (13 %), den kulturinteressierten, kritischen Typ (8 %), den häuslichen Typ (16 %), den autozentrierten Typ (10 %), den Action-Typ (24 %) und den Beauty-Fashion-Typ (29 %). Die Gruppen lassen sich folgendermaßen beschreiben:

Elegant male model with the retro car

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